Darf ich vorstellen? Das sind Regula und Dimitri. Und hier sind,
ausgewählt aus insgesamt 30 Porträts, Matthias, Fabienne, Ferhat, Renate und Nora. Alle sind zwischen 16- und 20-jährig. Noch nicht erwachsen. In einem Zwischenraum des Lebens. Die Züge ausgeprägt und doch noch wandelbar. Offen für eine noch unbestimmte Zukunft, aber schon mit bestimmten Bildern von sich selbst.
Dieses Dawischen-Sein hat die Neugierde des Fotografen geweckt. Und er versetzt mit diesem Inter-Esse – was nichts anderes heisst als: Dazwischen - Sein – den Betrachter oder die Betrachterin ganz konkret in Zwischen-Räume: Man bewegt sich zwischen Regula und Dimitri, zwischen diesen grossen Köpfen, schaut und wird angeschaut. Dimitri und Regula sind da, absolut präsent. Wer sie kennt, wird diese ungeheure Gegenwart der frontal aufgenommenen Gesichter sehen. Der Fotograf hat offensichtlich darauf geachtet, dass alle, die doch so verschieden sind, auf die gleich weide in die Kamera schauen: frontal eben, wie das Erkennungsbild, das die Polizei
macht, unbewegt, wie das die Kriminalistik für Fahndungsbilder vorschreibt. Und wenn es denn um Kriminalistik ginge: Hier ist es eine, die sich nicht denunzierend verhält, sondern sich vertieft in die Gesichtszüge der Porträtierten.
Handelt es sich um Porträts? Auch hier ein Zwischen-Raum: Es spielt an
sich keine Rolle, ob es Regula oder Dimitri ist, es spielt keine Rolle, wessen Abbild hier hängt. Ich muss nicht wissen, wer das ist, den oder die der Fotograf abgelichtet hat. Er hat die Portraits mit seiner Inszenierung so in den Raum, so ins Licht gesetzt , dass sie sich ohnehin wieder
im Licht auflösen – zwischen der Fixierung und dem Entschwinden schwankend, je nach Licht. Gerade das ist ein Raum, den die Fotografie, Momente fixierend, sonst eher meidet. Sie will das Hier und Jetzt. Das ist hier und jetzt, in dieser Raumsituation zwar auch da, aber es entzieht sich, wie sich ein lebendiges Individuum in jedem Moment auch stets wieder entzieht – Ich ist in jedem Fall ein Anderer. Der Blick des Betrachters schwankt zwischen diesen immer Anderen hin und her, das Innehalten und Vertiefen, das Fixieren, welches das Porträt traditionellerweise fordert, wird immer wieder unterlaufen.
Andreas Greber versteht es, das fotografische Moment des Fixierens
zu unterlaufen. Seine Objekte – aber er behandelt die Jugendlichen trotz aller formaler Stringenz nicht als solche – entziehen sich der Bestimmung. Das hat mit seiner technischen Experimentierfreude, aber auch mit seinem Verständnis der Fotografie zu tun: die Materialien, die er wählt – in diesem Fall billige Baufolie, in einem anderen krudes Verputzmaterial – zerstreuen sozusagen das Licht; die Emulsion auf der Folie wirkt wie ein plastischer Punkt oder ein glänzender Tautropfen. Wobei die Bilder eben durch dieses Diffundieren, Weg- und Abweisen ihre Präzision erhalten. Das ist die Genauigkeit des bestimmten Unbestimmten, die irrlichternde Belichtung gewisser Momente.
Diese Bilder entziehen sich. Sie, selbst Licht-Bilder, verschwinden im
Licht, die Konturen verschwimmen und scheinen wieder auf. Gerade dadurch unterscheiden sie sich von den formal vergleichbaren Kopf-Bildern von Franz Gertsch oder Thomas Ruff. Was die grossen Meister des zeitgenössischen Portraits durch Vertiefung und Intensität schaffen, schafft Andreas Greber durch den Entzug: jene Präsenz herzustellen, die erst die Wahrnehmung intensivieren. Ist das Bildnis im Moment des Entzugs fast wie abwesend, so holt die Ballung der fotografischen Materie den Blick gleich wieder zurück: Es sind die Augen, die Augen, jene Fenster zur Seele – Albrecht Dürer malte in den Augen die Fenster – die nicht loslassen. Sie zentrieren nicht nur das einzelne Folienbild, sondern die ganze Folieninstallation. Hier beginnt sich das Unbewegliche – was Fotografie nicht umgehen, aber offensichtlich hintergehen kann – in Bewegung
zu setzen. Der Entzug wird zum Bezug. Blick zu Blick.
Ich muss Regula und Dimitri in die Augen sehen, selbst wenn sie
durchsichtig sind. Dem kann ich mich nicht entziehen. Und dann entgehe ich diesen Gesichtszügen nicht mehr, die zuerst so verschieden, dann typenartig – “jugendlich”, “schön”, “interessant” – geworden sind. In der Auflösung der Individualität, die durch die Installation, die Grösse der Porträts bewirkt wird, in diesem Prozess des sehens entsteht eine ungeheure Nähe. Man möchte mit allen diesen Menschen sprechen, weil sie plötzlich – und das ist das fotografische Moment – so offensichtlich nahe sind. Genau in diesem Augenblick.
Auch wenn Regula und Dimitri auf billigem Material erscheinen: In diesen
Bildern scheinen sie unverwechselbar auf. Sie verwandeln sich, das Wort sei
gestattet, in das, was jedes Individuum in seiner Wechselhaftigkeit ist: In etwas Unverwechselbares. Und die Kunst von Andreas Greber ist es, den Blick fast unerbittlich darauf zu lenken – ohne Pose, ohne Manierismus. Frontal.
Konrad Tobler 2000